Auf gut französisch lautet das Sprichwort: “Le chemin le plus court aller au paradies, c’est escalier de la cave“. Im ersten Moment – und auch ich dachte so, als ich das Bonmot zum ersten Mal hörte – meint man, es gehe um den Alkohol, als wesentlichen Bestandteil des Weins. Ich ließ diese Überlegung jedoch rasch wieder fallen. Zwar kann das erste Stadium des Alkoholrauschs recht angenehm sein, z. B. in der Phase 1, in der es dem Menschen leichter wird, er heiterer wird, mit gehobenem Kreislauf. Da bleibt es kaum bei dem einen Probierschluck. Eine auf diese Wirkung berechnete Dosierung von Alkohol würde allerdings nicht auf ein „gefundenes Paradies“ hinweisen, sondern auf die gezielte Behandlung vom Missbehagen, und damit auf einen medikamentösen Gebrauch, möglicherweise auch auf ein Suchtverhalten.
In Phase 2 bestehen allerdings bereits – gleichzeitig mit einen Hochgefühl – Phasen der Selbstüberschätzung. In Phase 3 geht das Gleichgewichtsfühl verloren, und die Sprache wird verwaschen. In Phase 4 – bei etwa 1,5 Promille – tritt Schwindelgefühl ein und man beginnt zu schwanken. In Phase 5 – bei ungefähr 2 Promille – folgt Erbrechen und Kontrollverlust. Offenbar geht es beim Weintrinken nicht in erster Linie um die alkoholische Wirkung, zumal ein Schnaps sich leichter auf seine alkoholische Wirkung dosieren ließe.
Wenn der Alkohol nicht gemeint ist, geht es dann um alkoholfreien Wein? Bei einem volkstümlich gewordenen Sprichwort schließt sich eine solche Antwort an und für sich aus, da im Zeitpunkt seiner Entstehung der alkoholfreie Wein, abgesehen von verschiedenen Methoden der Verdunstung oder des Kochens, noch nicht „erfunden“ war. Außerdem spielt alkoholfreier Wein praktisch keine ökonomisch bedeutende Rolle, da der Anteil am Umsatz alkoholfreier Weine im unteren „Promillebereich“ rangiert.
Zum anderen weicht der Geschmack von alkoholfreien Weinen erheblich von dem normaler Weine ab. Hintergrund sind die Produktionsmethoden von alkoholfreien Weinen: die Umkehrosmose oder die Dünnschichtverdampfung. Beide Verfahren führen zu Geschmacksbeeinträchtigungen, die für Probanden deutlich erkennbar sind.
Bei verständiger Würdigung kann das Sprichwort unserer französischen Freunde so nicht gemeint sein. Sollten sich die weinerfahrenen Franzosen derart geirrt haben? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich ist nicht der tägliche Gang in den Weinkeller zur alkoholischen Versorgung gemeint, sondern etwas anderes: die Erfahrung von besonders angenehmen, außerordentlichen, beglückenden Erlebnissen mit dem Wein. So etwas gibt es tatsächlich.
Natürlich entstehen solche beglückenden, paradiesischen Erlebnisse nicht mit einem Allerweltswein, schon gar nicht mit einem irgendwie fehlerhaften Wein, sondern der „Glückswein“ muss schon in seiner Erwartung als etwas Besonderes gelten und einwandfrei sein. Vor allen Dingen muss der Probierende bereit und in der Lage sein zu paradiesischem Empfinden. Mangelnde Gesundheit und irgendein Missbehagen sollten ausgeschlossen werden können. Aber noch weitere Voraussetzungen müssen erfüllt sein:
Theoretisch kann auch der Weinkeller selbst als Schauplatz eines Paradies-Effektes gelten, wenn etwa sich herausstellt, dass man bei einer Probe ganz unerwartete Geschmacksoffenbarungen erlebt, die praktisch wie ein „Augenblick im Himmel“ wirken. Wahrscheinlicher ist, dass mit der Partnerin und/oder guten Freunden der Wein noch zu einem hervorragenden Essen passt. Wenn wir dann die vielfältigen Aromen in uns aufnehmen, die an Pflanzen, Blumen, Früchte und Gewürze erinnern, und beginnen, zu riechen und zu schmecken was Wälder und Gärten hervorbringen können, vielleicht gewinnen wir dabei einen Eindruck davon, dass in der biblischen Überlieferung die Erde ein Eden war – und ein Garten.
Die moderne Bio-Wissenschaft hat es auf den Punkt gebracht: perfekte Weine können die Ausschüttung von Endorphinen bewirken und damit Glücksfühle auslösen. Ein bisschen peinlich ist die direkte Werbung mit Glücksgefühlen aus dem Glas, wie sie das Jacques-Weindepot betreibt: ob eine Ententerrine mit Oliven, zu einem Rioja genossen, paradiesische oder ozeanische Gefühle bewirken kann, fragt sich schon sehr. Kann man diese „Paradiesgefühle“ auch nicht erzwingen, kann man doch etwas tun, Gelegenheiten dafür zu schaffen. Wenn dem Keller etwas Gutes entnommen werden soll, dann muss zuvor etwas Gutes hineingebracht worden sein.
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